Wiesbadener Kurier vom 20.05.2020:
Der Wiesbadener Verein „Moment mal“ muss sich neu aufstellen. Vorträge und Versammlungen sind nicht möglich. Für die Demokratie will man sich aber weiterhin einsetzen.
Von Anja Baumgart-Pietsch
„Moment mal“ heißt die Aktion, die sich 2018 in Wiesbaden unter
dem Eindruck erstarkender rechter Kräfte gegründet hat – ein Freundeskreis aus den unterschiedlichsten Spektren der Stadtgesellschaft. Speziell die AfD als parlamentarischer Arm der völkisch-nationalistischen Bewegung und die mit ihr verwobenen fremdenfeindlichen oder verschwörungstheoretischen Gruppen soll ganz klar als Bedrohung der Demokratie benannt werden. „Menschenfeindliche Parteien und Gruppierungen können sich in einer Demokratie zur Wahl stellen – aber sie müssen damit leben, dass sie nicht an jeden Tisch gebeten werden, sondern auf heftigen Gegenwind treten“, heißt es bei „Moment mal.“
In den vergangenen beiden Jahren wurden zwölf gut besuchte Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen organisiert, ganz gezielt an unterschiedlichen, exponierten Orten wie Staatstheater, Schlachthof, Haus an der Marktkirche, Museum, Theater im Pariser Hof. Denn, so Mitorganisatorin Claudia Sievers, durch diese Vielzahl der Orte habe man auch ein sehr unterschiedliches Publikum erreicht und spannende und kontroverse Diskussionen erlebt. Jetzt jedoch ist das reale Programm durch Corona zum Erliegen gekommen. Bereits vor dem allgemeinen Veranstaltungsverbot hatte sich „Moment mal“ entschlossen, den im März geplanten Abend mit dem CDU-Politiker Ruprecht Polenz abzusagen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und Vertreter der Bundesregierung im Dialog um den Völkermord an den Herero und Nama mit Namibia hätte in der Ringkirche über die Verantwortung der Konservativen für die Demokratie sprechen sollen.
„Wir erkannten bald, dass es nicht ausreicht, die Planungen einfach einige Wochen zu verschieben“, sagt Mitorganisator Georg Habs. „,Moment mal‘ hat sich schnell aus der Schockstarre gelöst und in wöchentlichen Videokonferenzen weitergearbeitet. Wir haben schnell gemerkt, dass wir nicht nur neue Formate finden müssen, sondern dass wir jetzt auch auf die sich verändernde Situation reagieren müssen. Einige Themen drängen sich neu nach vorne, andere verlieren an Bedeutung.“
Man habe aber nicht einfach nur ins Digitale ausweichen und Vorträge abfilmen wollen, denn erfahrungsgemäß finde das nur wenig Beachtung. Dass man sich aber nicht zurückziehen kann, bis die Krise irgendwann ausgestanden ist, war den Mitstreitern auch klar. „Wir erleben ein Paradox: Die Zeit scheint eingefroren, aber die gesellschaftlichen Probleme bleiben. Die Bedrohung unserer Demokratie verstärkt sich sogar.“ So arbeitet „Moment mal“ gerade mit Unterstützung von „Achtsegel.org“, einem Frankfurter Büro für demokratische Kommunikation und politische Bildung im Netz, an neuen Formaten. Das sollen kürzere Filme in Form von Interviews mit Fachleuten einerseits, kleinen Dokumentationen zu aktuellen Themen andererseits werden, die, so ho man, ab Juni etwa wöchentlich im Netz stehen sollen und dort auch diskutiert werden können. „Wir möchten unseren hohen Qualitätsstandard auch jetzt aufrechterhalten“, sagt Claudia Sievers.
Bei der Durchführung kann man sich auf Förderung von „Demokratie leben“ und der Martin-Niemöller-Stiftung stützen. „Statt mit Veranstaltungen möchten wir mit Videos die Themen definieren, die für die offene Gesellschaft wichtig sind. Wir werden dabei auch ein besonderes Augenmerk auf die Situation in Wiesbaden werfen, wo ja auch diese ,Hygienedemos’ ablaufen.“ Und sie nennt das Motto in Krisenzeiten: „Wir tragen Mundschutz statt Aluhut und streiten weiterhin gegen die
Feinde der offenen Gesellschaft.“