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„Widerstand der Vernunft“ mit Prof. Dr. Susan Neiman

„Widerstand der Vernunft“ mit Prof. Dr. Susan Neiman

Transkript der Veranstaltung „Widerstand der Vernunft – Ein Manifest in postfaktischen Zeiten“ mit Prof. Dr. Susan Neimann, am 25. Juni 2018 in Wiesbaden, Stadtverordnetensitzungssaal.

„Ich rede heute nicht über Fake-News, auch nicht über russische Bots und möglichst wenig über den Bewohner des Weißen Hauses, der von 65 Prozent seiner Landsleute so verhasst ist, dass wir Namen für ihn erfinden, damit wir seinen Namen nicht aussprechen müssen. Den Narzissmus eines Mannes, der seinen Namen auf Flugzeuge und Steaks platziert, will ich nicht bedienen.

Ich werde auch nicht über Populismus reden – ein Begriff der kaum definierbar ist –, auch wenn ich mir große Sorgen über die Entwicklung in diesem Land mache. Und ich sollte dazu sagen, dass ich vergangenen Herbst die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen habe. Weil ich trotz allem glaube, dass Deutschland große Fortschritte in Richtung Demokratie und Gerechtigkeit gemacht hat. Es gilt diese zu verteidigen!

Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich darf aber davon ausgehen, dass Sie weder glauben, dass Hillary Clinton während des Wahlkampfs einen Kinderpornoring aus einer Pizzeria heraus betrieb, noch dass der Brexit dem britischen Gesundheitssystem 350 Millionen Pfund pro Woche bescheren wird. Wir sind fortschrittliche, aufgeklärte Menschen, sonst wären wir nicht auf einer solchen Veranstaltung.

Sind es aber nicht gerade solche Kreise, die gar nicht mehr an Fortschritt glauben, da sie es mit unbegrenztem neoliberalem Wachstum verwechseln? Sind es nicht solche Kreise, die Aufklärung nicht nur als überholt betrachten, sondern als Quelle für Eurozentrismus und Kolonialismus?

Es ist äußerst bequem, verlorene Menschen, wie diejenigen, die an Hillary Clintons angebliche Pornoring glauben, solchen Menschen die Schuld für Trumps Wahlsieg zu geben. Menschen wie Sie und ich, sind dann daran unschuldig. Dennoch machen solche Gestalten nur die Hälfte der Trump-Wähler aus.

Die Daten sind deutlich: Die Ärmsten haben für Clinton gestimmt, während die Hälfte aller Trump-Wähler Jahreseinkommen von über Hunderttausend im Jahr hatten. Weiße Wähler mit Hochschulabschluss haben zu 49 Prozent für Trump gestimmt, zu 45 Prozent für Clinton. Die übrigen sechs Prozent haben ihre Stimme für eine hoffnungslose Partei vertan. Dabei liegt die Wahlbeteiligung in den USA bei ungefähr 50 Prozent. Auch in Deutschland ist es ein Mythos, dass die AfD-Anhänger zu den Globalisierungsverlierern gehören. Auch wenn wenige von ihnen das Lebensniveau von Alexander Gauland genießen, gehören doch die meisten der AfD-Unterstützer nicht zum Prekariat.

Selbst seine Kritiker vergessen oft, wie der Neoliberalismus auf den Ruinen des Staatssozialismus aufgebaut wurde. Letzterer ist genauso wenig die einzige mögliche Form des Sozialismus, wie der Neoliberalismus alle Möglichkeiten des Kapitalismus ausschöpft. Um Alternativformen formulieren zu können, brauchen wir gerechtere Geschichtsbilder. Sie fangen an bei der Erkenntnis, dass die DDR nicht auf die Stasi reduziert werden kann. Mir liegt es fern die Stasi zu rechtfertigen, auch wenn ich weiß, dass ihre Methoden von der heutigen Überwachung durch Wirtschaft und Politik – wie Edward Snowden bewies – reichlich übertroffen werden. Aber auch Snowdens glühendster Anhänger kommt nicht auf die Idee, die gesamte Kultur der USA auf die NSA zu beschränken. Kein Hörer meiner Rede wäre auf die Idee gekommen, dass Hillary Clinton einen Kinderpornoring in einem Pizzarestaurant betrieb, doch insofern wir unsere historischen Kenntnisse aus den etablierten Medien nehmen, lassen wir uns täuschen, dass Ronald Regan ein wohlgesonnener, nicht besonders kluger Weltpolitiker war, oder dass die DDR einem Nazi-Staat glich, in der außer ein paar Oppositionellen nur ängstliche Schafe oder garstige Kollaborateure lebten.

Zweifelsohne muss das Versagen des realen nicht-mehr-existierenden Sozialismus benannt und vor allem analysiert werden. Doch jede Analyse müsste auch daran erinnern, dass das Jahr 1989 nicht nur das Ende der Berliner Mauer brachte, sondern auch den Anfang eines Kapitalismus, der in Abwesenheit jedes Gegenbildes zunehmend alle Werte auf Marktwerte reduziert.

Nun. Ich muss sagen … (zögert, setzt neu an) – Jeder Intellektuelle, der sich zum Podium begibt, hat eine Pflicht, ein bisschen Hoffnung zu verbreiten. In den letzten zehn Tagen … Seit den letzten Problemen in der nicht so erfreulichen Großen Koalition ist mein Hang zu Hoffnung … was soll ich sagen … auch ein bisschen beschädigt. Ich werde mich trotzdem an meinen Vorsatz halten, das hoffnungsvollste Bild zu verbreiten, dass mir gelingt. Und deshalb fahre ich fort mit einem Satz – was mir schwer fällt in diesem Moment –, aber es geht um Moral und nicht um Feststellung des heutigen politischen Zustandes.

Also: Ich bin keine Freundin des leninistischen Prinzips, wonach es erst zum Schlimmsten kommen muss, bevor es besser wird. Deshalb habe ich nach der Unterstützung des demokratischen Sozialisten Bernie Sanders in den Vorwahlen Hillary Clinton gewählt. Doch jetzt, wo es zum Schlimmsten gekommen ist, könnte man meinen, dass auch Lenin gelegentlich recht hatte. Denn Trumps Wahlsieg könnte in den USA bereits ein Umdenken gefordert haben. Er zeigt nicht nur das nackte Gesicht des ungezügelten Kapitalismus, sondern führt auch zu einer Reihe von Ideen, die nicht nur aus rechten Ecken kommen. Ganz im Gegenteil. Rechtsradikale greifen zu Waffen, wenn sie die Wahrheit traditioneller Quellen anzweifeln, Linksliberale greifen zu Theorie.

Um Widerstand gegen rechts sinnvoll leisten zu können, müssen wir uns zunächst von postfaktischen Theorien befreien. Und darauf will ich mich heute konzentrieren.

Wer zu oft Fälschungen liest, sei es über Pornoringe oder über Massenvernichtungswaffen, dem sei verziehen, dass er die Suche nach Wahrheiten aufgibt. Doch die Erfahrung, öfters angelogen worden zu sein, reicht nicht aus, um Begriffe der Wahrheit anzuzweifeln. Dafür braucht man theoretische Unterstützung aus postmodernen Theorien, begleitet von ihren scheinbaren Gegnern aus der Evolutionsbiologie und der neoliberalistischen Wirtschaftswissenschaft. Bei allen Unterschieden setzen sie alle eine Metaphysik des Misstrauens voraus: Hinter jeder Behauptung stehe ein verborgener Machtanspruch, hinter jedem vermeintlichen Ideal ein Interesse. Als Paradebeispiel gilt der Irak-Krieg.

Hinter inflationärer Rhetorik über Gut, Böse, Demokratie stand die Lust auf Regionalherrschaft und Öl sowie eine willkommene Ablenkung von einer Präsidentschaft, die 2002 als die Schlimmste der amerikanischen Geschichte galt – schöne Zeiten waren das. Für viele war dieser Krieg aber der letzte Beweis, dass jeder Versuch, Bösem entgegenzutreten, und jeder Versuch, Gerechtigkeit zu fördern, nichts Anderes als Heuchelei ist. Der zynische Versuch einer Gruppe, ihre Interessen mit moralischer Rhetorik zu verschleiern. Demnach liegt es in der Natur des Menschen: Jeder handelt, um seine Interessen durchzusetzen, seinen Freunden zu helfen, seinen Feinden zu schaden. In den Worten des Nazi-Juristen Carl Schmidt, der irrsinnigerweise zum Lieblingsdenker vieler Linksintellektueller geworden ist: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“

Nun, jede Generation stellt diese Haltung als etwas Neues, etwas Radikales dar. In der Tat ist sie spätestens seit Platon, der sie in seinem großen Werk „Der Staat“ erwähnte, vorhanden. In den letzten Jahrzehnten war Michel Foucault ihr wichtigster Vertreter und er formuliert es so, ich zitiere: „Ist Macht nicht schlicht eine Form kriegsähnlicher Herrschaft, sollte man nicht daher alle Probleme der Macht als Kriegsverhältnisse begreifen, ist Macht nicht eine Art von verallgemeinertem Krieg, der in bestimmten Augenblicken die Form des Friedens und des Staates annimmt? Der Frieden wäre dann eine Form des Krieges und der Staat ein Mittel ihn zu führen.“ Sie schütteln den Kopf – aber er gilt als einer der größten Denker der Postmoderne.

Ein Grundkurs in Logik hätte uns viel Wirrwarr erspart. Aus der Tatsache, dass einige Menschen blaue Augen haben, kann man nicht schließen, dass es keine anderen Augenfarben gibt. Aus der Tatsache, dass einige Moralansprüche verborgene Machtansprüche sind, kann man nicht schließen, dass jeder Anspruch für das Gemeinwohl zu handeln, einen Machtanspruch verschleiert. Aber Logik ist selten die Stärke von Denkern, die oft so verdunkelt schreiben, dass sie an Nietzsches Spruch erinnern: „Sie trüben das Gewässer, damit es tief erscheint“. Weil Foucaults Nachfolger meist noch undurchdringlicher sind, wäre es töricht zu behaupten, dass jeder politisch interessierte Mensch ein Kenner der neuesten Theorien sei. Doch wir alle sind Mitgefangene unserer Zeit und selbst diejenigen, die nicht studiert haben, schwimmen in den Ideologien, die vorhanden sind.

Wie Breitbart-News, die Hauptquelle der Rechten in den USA und inzwischen auch in Europa, es schrieb: „Politik steht stromab von der Kultur“. In einem bekannten Aufsatz hat der Kulturtheoretiker Stanley Fish Grundkenntnisse eines Wissenstransfers ganz abgelehnt: „Abstraktes Denken wie der Postmodernismus ist nicht die Ursache schlechter Handlung, er ist auch keine Ursache guter Handlung, er verursacht gar keine Handlung.“ Zitatende.

Nun haben Philosophen seit Jahrhunderten über die Beziehung von Denken und Handeln gestritten. Aber auch ohne ihre Argumente zu studieren, ist klar: Ihre Gedanken über das Mögliche bestimmen die Rahmen, in denen Sie handeln. Sollten Sie meinen, es sei unmöglich, Wahrheit von Narrativ zu unterscheiden, werden Sie es auch nicht versuchen. Sollten Sie meinen, Menschen können nur nach Eigeninteresse beziehungsweise aufgrund ihres Stammesinteresses handeln, werden Sie sich nicht scheuen, das Gleiche zu tun.

Natürlich haben weder Trump noch die Journalisten, die über ihn berichten, ausreichend Geduld und Sorgfalt, um mit komplexen philosophischen Theorien umzugehen. Wie jeder erfahrene Autor wissen müsste, nehmen die meisten Leser auch nur die einfachste Version der Gedanken des Autors mit.

Doch die Philosophie ist nicht nur dazu da, Gespräche mit anderen Philosophen zu führen, sie kann uns alle dazu bringen, die Annahmen zu entdecken, die unsere Meinung untermauern. Dabei zeigt sie uns ungeahnte alternative Möglichkeiten. „Sei doch realistisch“ klingt harmlos, beinahe banal, doch dahinter steckt eine Metaphysik, die viel Politik bestimmt, sie verbirgt eine Reihe von Voraussetzungen: Was ist denn wirklich, was ist Phantasie, was ist unvorstellbar? Übersetzt heißt der Ratschlag, realistisch zu sein, ungefähr so viel wie „Schraub Deine Erwartungen herunter“. Wenn Sie solche Ratschläge hören, wie stellen Sie sich die Wirklichkeit vor?

Seit 1989 hat eine Reihe bestimmter philosophischer Vorstellungen die Oberhand gewonnen. Und die lesen Sie jeden Tag in der Zeitung, auch wenn Sie nie ein Wort von Philosophie gelesen haben. Der Neoliberalismus verbreitet die Idee, ohne sie explizit zu vertreten, dass die einzig echten Werte Marktwerte sind. Die Evolutionspsychologie will dies mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Formulierungen untermauern: Auch unsere Urahnen und sogar unsere Gene handeln angeblich nur mit dem Ziel, sich selbst weiter zu vermehren. Gemeinsam haben beide Disziplinen die Annahme, dass Wahrheitsansprüche immer Machtansprüche sind. Wenn es überhaupt Fakten gibt, sind es Fakten über Domination. Nun habe ich nur einen Menschen erlebt – glücklicherweise nicht persönlich – der tatsächlich so handelt: Donald Trump verkörpert alle drei Theorien, seine Wahrheitsansprüche sind nur Machtansprüche, seine Werte nur materielle Werte, es scheint in seiner Natur zu liegen, möglichst viele Kopien von sich selbst oder wenigstens seines Namens zu reproduzieren.

Aber die Theorien, die diesen eigenartigen Menschen beschreiben, können glücklicherweise nicht auf die ganze Menschheit übertragen werden. Die Verbreitung solcher Ideologien – meist in vereinfachter Form – bemerken wir kaum, weil sie als Selbstverständlichkeiten geäußert werden. Da sie nur halbbewusst weitergetragen werden, verbreiten sie größtmögliche Unsicherheit. Wer nur gelernt hat, jedem Wahrheitsanspruch mit Misstrauen zu begegnen, dem wird es schwerfallen, eine Lüge als solche zu erkennen. Und die Rechten wissen die Unsicherheit ihrer Gegner auszunützen: „Darwin hat einen Narrativ angeboten, die Bibel einen andern, wer soll schon entscheiden welches Narrativ, das stärkere ist?“ 99 Prozent aller Klimaforscher sind der Meinung, dass unser Energieverbrauch das Klima verändert – „Wer sagt denn schon, dass die Meinung von Experten die richtige ist“?

Der Verleger Andrew Breitbart erklärt seine Strategie, und ich zitiere nochmal Breitbart, dessen Erben in Europa viele Büros aufgemacht haben: „Im 21. Jahrhundert sind die Medien alles, die Liberalen …“ – liberal heißt in den USA übrigens linksliberal – „… die Liberalen gewinnen, weil sie das Narrativ bestimmen, die Medien bestimmen das Narrativ, Narrativ ist alles. Ich bin im Krieg, um den amerikanischen Narrativ zurückzugewinnen.“

Sein etwas sanftmütigerer Kollege, der erfolgreiche rechtsradikale Webseiten-Betreiber Mike Czernowitz, erklärte der Zeitschrift The New Yorker: „Sehen Sie, ich habe die postmoderne Theorie an der Uni gelesen. Wenn alles ein Narrativ ist, brauchen wir Alternativen zu den herrschenden Narrativen.“ Und er lächelt: „Ich sehe nicht aus wie ein Typ, der französische Theoretiker wie Lacan liest, oder?“ Hat er aber gemacht.

Linke Theoretiker unserer Zeit haben verdeutlicht, was schon bei Marx problematisch war. In meinem Buch Moralische Klarheit habe ich gezeigt, wie Marx` Materialismus zum Fall der Sozialdemokratie geworden ist. Gelähmt haben uns nicht nur die Brutalität der Praxis, die marxistische Regierungen oft begleitet, sondern auch die Widersprüche der marxistischen Theorie selbst. Der Marxismus bezog seine Anziehungskraft aus dem Anspruch, moralische Gerechtigkeitsideale zu verwirklichen, welche die Aufklärung zwar formulierte, aber nicht zu Ende gedacht hatte. Dank Marx haben wir verstanden, dass die Meinungsfreiheit eines Zeitschriftenverlegers etwas anderes ist, als die Meinungsfreiheit eines Protestlers, der ein Plakat auf der Straße hochhält. Ursprünglich war das keine Kritik an den Idealen selbst, sondern an deren mangelnden Erfüllung. Es war eine wichtige fortschrittliche Kritik.

Die Ideale, die marxistische Bewegungen beflügelten, wurde jedoch von einer Metaphysik ausgehöhlt, die bei den Sophisten der griechischen Antike stehen geblieben ist, auch wenn sie immer wieder in Mode kommt. Für Marxisten sind Ideale nichts als Ideologien, Rationalisierungen ohne wirkliche Basis. Ob Philosophie, Kunst oder Religion, sie alle verfolgen nur einen Zweck, die realen, sprich die ökonomischen Verhältnisse zu verschleiern, die wirklich unser Leben bestimmen. Die grundsätzliche Dissonanz zwischen Ton und Inhalt steckt im Herzen von Marx Theorie. Mit großartiger Pose bewegt er die Gemüter mit Idealen der Gerechtigkeit, kurz bevor er Ideale und Gerechtigkeit zum Überbau und Überfluss erklärt. Hinweise auf Unterschiede zwischen den frühen und späten Schriften bieten keinen Ausweg aus diesem Dilemma, die Kluft zwischen Ton und Inhalt lässt sich nicht verbergen. Auch diejenigen, die nicht geneigt sind, spitzfindige Textanalysen zu betreiben, spüren es in den Knochen.

Nun, Marxisten sind heute die meisten, ob sie es wissen oder nicht, manchmal Konservative mehr als andere. In diesem Sinne ist jeder marxistisch, der glaubt, dass das Fressen die Moral, beziehungsweise die Politik bestimmt. Chronologisch gesehen hat Brecht ja recht: Wer hungert und friert, wird kaum die Möglichkeit haben, auf andere Ideen zu kommen. Aber von dieser Erkenntnis bis zu der Meinung, dass Geld immer die Vernunft besiegen wird, ist es ein großer Schritt, der öfter unternommen wird, als uns bewusst ist. Gewinn und Verlust sind messbar. Wenn nur das Messbare zählt, ist es kein Wunder, dass Außenpolitik als „Deal“ verstanden wird, in der Loyalität und Prinzipientreue keine Rolle spielen. Alles wird an einer Latte gemessen: „Bringt es mir, meinem Land, meinem Volk Gewinn?“

In den letzten Jahrzehnten haben viele gegen dieses Weltbild protestiert. Leider sind die Erfolgreichsten dabei nicht die Occupy-Bewegung, sondern die Fundamentalisten und Nationalisten, die immer mehr Menschen in Ihrem Bann ziehen. Es ist grundlegend falsch, ihren Protest als Protest der Verlierer der Globalisierung zu verstehen. Mehr Gewinn würden sie nicht zufriedenstellen. Jegliche empirischen Studien zeigen, dass Dschihadisten oft zu den produktivsten, gebildetsten ihrer Länder gehören. Ein größeres Stück vom Kuchen wird ihnen nicht genügen, den Teller selbst lehnen sie ab. Die jungen Frauen, die ihre Köpfe bedecken, wollen nicht zu einer Welt gehören, in der Frauenkörper wie Waren behandelt werden, die jungen Nationalisten, die auf ihre ethnische Identität pochen, wollen nicht in einer Welt leben, in der jede Großstadt wie jede andere aussieht, weil multinationale Konzerne allerorten die Straßen beherrschen. Dies ist natürlich kein Freibrief für die Exzesse der Menschen, die stur auf die Vorherrschaft ihrer Religions- oder Stammesgenossen pochen. Doch diejenigen, die dagegen handeln wollen, wird dies nicht gelingen, wenn sie die Wurzeln der Probleme nicht verstehen und nicht verstehen, was wir dazu beigetragen haben.

Nun, wer sind Wir? Ich hoffe, ich gehe davon aus, dass die meisten von Ihnen doch zu diesem Wir gehören. Wir sind alle, die nicht klar genug erkannt haben, dass es zum Stammesdenken nur eine Alternative gibt: den Universalismus.

Leider hat der Begriff gerade unter linksstehenden Intellektuellen einen schlechten Ruf bekommen. Universalismus gilt als ideologischer Musterbegriff für Machtansprüche, mit denen partikuläre Interessen verteidigt wurden. So waren es Linksliberale, nach der US-Bürgerrechtsbewegung, die die Identitätspolitik erfunden haben. Eine Politik, die den reaktionären Nationalismus eines Carl Schmidt widerspiegelt. Wer glaubt, dass Wahrheit nur Macht ist, dass Ideale nur Interessen verschleiern, wird schnell zu dem Schluss kommen, dass lediglich die Interessen des eigenen Stammes zählen.

Diese Entwicklung ist besonders tragisch, da die frühen Bürgerrechts- und Antikolonialismus-Bewegungen geschlossen jeder Form des Stammesdenken entgegengetreten sind. Ihre Stärke wurde ausgedrückt in Liedern, die behaupteten, alle Menschen sind Sklaven, bis ihre Brüder befreit sind. Statt Geschichte zum Narrativ zu erklären, hätte der Postkolonialismus die Geschichte erweitern können. Es ist einfach wahr, dass viele Nicht-Europäer, die oft reichhaltigen, komplexen Kulturen entstammten und von denen die Europäer hätten lernen können, für europäische Gewinnmaximierung missbraucht und ermordet wurden. „Die Europäer reisten“, um Jean Jaques Rousseau von 1754 zu zitieren, „nicht um ihre Köpfe, sondern ihre Taschen zu füllen“. Aber auch diese Wahrheiten drohen zu schwinden, wenn der Begriff der Wahrheit auf Macht reduziert wird. Wieder haben die Rechten dies früh erkannt.

Identitätspolitik ist ein gefährliches Spiel. Wenn die Ansprüche der Minderheiten nicht als Menschenrechte, sondern als Rechte bestimmter Gruppen anerkannt werden, was hindert die Mehrheiten daran, auf ihre eigenen Stammesrechte zu pochen? Solche Fragen waren während der Trump-Wahl zu hören, in den letzten Jahren haben sogenannte „Identitäre Bewegungen“ in Österreich, Frankreich und nun auch in Deutschland Fuß gefasst. Sie geben sich bewusst scheinbar harmlos: „Wenn andere für die Rechte ihrer Gruppen kämpfen, warum sollen weiße Europäer nicht auch die Möglichkeit haben, gegen den verhassten Multikulturalismus aufzustehen?“ Kurz nach der Trump-Wahl lief eine Debatte in Amerika darüber, welche Verantwortung eine liberale Unterstützung der Identitätspolitik trägt. Haben scheinbar nebensächliche Fragen wie etwa der Diskriminierung weiße Wähler entfremdet, die wegen ihrer wirtschaftlichen Sorgen dann Trump unterstützten?

Die Frage ist aber falsch formuliert. Morde an unbewaffneten Afroamerikanern, die zur Black-Lives-Matter-Bewegung führten, sind keine Nebensachen, sondern Verbrechen. Und Gewalt gegen Frauen, Schwule und Lesben sind es genauso. Doch wenn diejenigen, die dagegen protestieren, in ihrem eigenen Stammesdenken verhaften, haben sie keine Möglichkeit zu argumentieren, dass solche Verbrechen zur universellen Entrüstung führen müssen. Wenn nur Stammesinteressen als natürlich gelten, gibt es keine Basis für eine wirksame universelle Entrüstung. Ihre Argumente werden partikulär formuliert, gestützt auf Machtbegriffe, denn heute sehen Machtbegriffe nach festem Boden aus. Nach Hannah Arendt hätte Adolf Eichmann nicht wegen Verbrechen gegen das Jüdische Volk angeklagt werden sollen, sondern wegen Verbrechen gegen die Menschheit.

[Applaus]

Und sie hatte recht, wie Sie offensichtlich auch erkennen.

Meine eigene Unterstützung für Black-Lives-Matter entstammt weder meiner Stammeszugehörigkeit noch bestimmter Schulden meiner Ahnen, die keine Sklavenhalter waren, sondern arme Ostjuden und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Chicago auswanderten. Ich unterstütze die Bewegung, weil das Erschießen unbewaffneter Menschen ein Verbrechen gegen die Menschheit ist. [Applaus]

Und gleichzeitig distanziere ich mich von der weißen Gegenbewegung, die Parolen wie All Lives Matter schreit, weil sie versucht, mit einer banalen Wahrheit von einer wichtigen empirischen Wahrheit abzulenken: Afroamerikaner sind ungleich öfter als andere von Polizeigewalt bedroht. Doch um dies festzustellen, muss man an einem Wahrheitsbegriff festhalten – und bitte nicht: „meine Wahrheit“ und „Deine Wahrheit“ und „seine Wahrheit“ und „ihre Wahrheit“. Ja, wir haben unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Perspektiven, aber es gibt nur einen Wahrheitsbegriff.

Ich könnte jetzt ein bisschen über den sehr erfreulichen Widerstand in den USA berichten, weil dieser in den deutschen Medien wirklich „unterberichtet“ wird, aber ich möchte Zeit für die Diskussion haben. Ich kann aber an dieser Stelle meinen Stolz auf unseren Bundespräsidenten kundtun, der erkannt hat, dass sich Amerika zurzeit in einer Art kaltem Bürgerkrieg befindet, und sich bewusst entschieden hat, sich mit der anderen Seite zu verbünden. Er hat eine wunderbare Rede in Kalifornien gehalten. Kalifornien hat die sechstgrößte Wirtschaft der Welt und versucht, mit eigenen Gesetzen gegen alles, was Trump versucht, Widerstand zu leisten. Und ich finde es wunderbar, dass unser Bundespräsident nicht von Amerika und transatlantischen Bündnissen spricht, sondern wirklich erkennt, wie die Verhältnisse sind, und sich klar auf die Seite der Menschen stellt, die europäische Werte, internationalistische Werte teilen. Nur damit sie es wissen: Es gibt Millionen von Amerikanern, die auf vielschichtige Art und Weise Widerstand leisten.

Die Europäer müssen Strategien entwickeln, um die Rechtsnationalisten zu bekämpfen, die zu ihren regionalen Bedingungen passen. Aber was sind die allgemeinen Prinzipien dabei? Wir könnten vielleicht in der Diskussion auf Strategien kommen, aber ich möchte noch ein bisschen über die allgemeinen Prinzipien sprechen, die jede Strategie untermauern müssen.

Geschichtsvergessenheit zeigt sich auch in der Geistesgeschichte. Nichts wäre schädlicher, als dem Ruf jener Denker zu folgen, wonach Brexit und Trump und AfD beweisen, dass die Zeiten der Aufklärung und Vernunft schon wieder vorbei sind. Schon wieder, weil das wird alle fünf Jahre gerufen. Aber es gibt viele Stimmen, die der Aufklärung die Verantwortung geben für ein Bild der Vernunft, die aus reiner ökonomischer Zweckrationalität besteht. Der Begriff des homo economicus wurde aber erst ein Jahrhundert nach der Aufklärung entworfen und im kalten Krieg weiterentwickelt. Verhaltensökonomiker wie der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann haben längst bewiesen, wie oft Menschen nicht handeln, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu maximieren, sie werden oft von anderen Motiven geleitet. Daraus könnte man schließen, dass Menschen irrational sind oder man könnte sich dazu entscheiden, den Vernunftbegriff zu überprüfen.

Bereits die Aufklärung entwarf einen anderen Vernunftbegriff. Vernunft verstanden sie als die Fähigkeit, sich an universellen Werten zu orientieren, vor allem an Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Werte sind in Afrika und Asien und auch in Europa vorhanden, der Vorwurf des Eurozentrismus wurde schließlich von Aufklärern erfunden, die immer wieder betonten, wieviel Europäer von anderen Kulturen zu lernen hätten. Dies taten sie oft unter erheblichen Gefahren: 1723 musste z.B. der deutsche Philosoph Christian Wolff zwischen Tod oder Exil wählen, weil er öffentlich lehrte, dass die Chinesen kein Christentum brauchen, um Moral zu haben. Dafür – ja wir lachen heute – aber so war es. Ich ärgere mich immer, wenn ich höre, dass der Eurozentrismus von der Aufklärung stammt, weil sie haben mit ihrem Leben dafür bezahlt, dass sie anti-eurozentrisch waren.

Die Vernunft stellt sich auch nicht, wie die Romantiker beklagen, gegen die Natur, sondern es ist die Vernunft, welche die angebliche Natürlichkeit gewisser Zustände in Frage stellen kann. Überlegen Sie sich, wie oft Sklaverei, Folter, Armut und Frauenunterdrückung als „natürlich“ dargestellt wurden, um ihre Unabänderlichkeit zu unterstreichen. Vor allem stellt sich die Vernunft gegen eine Obrigkeit, die ihre Macht verteidigt, indem sie das Recht auf Denken einer kleinen Elite vorbehält. Damals war die Elite eine Aristokratie, die eng mit der Kirche verbunden war. Heute besteht sie aus neoliberalen Wirtschaftsberatern, die die angebliche Natürlichkeit ihrer Ideologie mithilfe der Evolutionspsychologie untermauern.

Die Aufklärer waren sich immer bewusst, dass die Vernunft auch Grenzen hat. Sie waren nur nicht bereit, der Obrigkeit die Festlegung dieser Grenzen zu überlassen. Ein gewisses Maß an Zweckrationalität ist bei einem solchen Vernunftbegriff gefordert, auch Begriffe der Logik. Sie reichen aber bei Weitem nicht aus. Kern der Vernunft ist das Prinzip des zureichenden Grundes, nicht als Feststellung, sondern als Forderung: Finde für alles was geschieht den Grund, dass es so und nicht anders geschieht. Vieles taugt als Grund, vieles andere aber nicht. So ist zum Beispiel: „So ist halt die Welt“ oder „Man hat es mir gesagt“ kein Grund, die Vernunft muss ein bisschen weitergehen.

Die Fähigkeit, Gründe für das Gegebene zu suchen, ist die Grundlage aller wissenschaftlichen Forschung und sozialer Gerechtigkeit. Wir haben alle diese Fähigkeit, sie ist eingeboren. Jedes Kind folgt dem Prinzip des zureichenden Grundes, wenn es fragt, warum der Regen fällt, und nicht loslässt, bis die Erwachsenen jene Gründe erklären, die dazu führen – oder dem Kind sagen, es solle aufhören, so viele Fragen zu stellen. Und dieses Kind wird auch neugierig, wenn es zum ersten Mal einen Obdachlosen oder ein syrisches Kind im Fernsehen sieht: „Warum hat der Mann keinen Schlafplatz, warum hat das Kind kein Zuhause?“ Wer ernsthaft versucht, dem Kind eine Antwort zu geben, wird vom Erklären zum Handeln geleitet. So verstanden wird die Vernunft weder auf Technik beschränkt, noch gegen die Leidenschaft ausgespielt.

Das Oxford OED [Oxford English Dictionary] hat im gleichen Jahr wie die Gesellschaft für dt. Sprache postfaktisch zum Un-Wort des Jahres ernannt. Die Gesellschaft für deutsche Sprache definiert postfaktisch als die Bereitschaft, Tatsachen zu ignorieren, und verweist darauf, „dass es in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht“. Aber diese Erklärung verrät einen binären Gegensatz zwischen Fakten und Gefühlen, in dem beide zu kurz kommen. Denn Gefühle und Fakten reagieren aufeinander. Es geht nicht darum auf Emotionen zugunsten von Fakten zu verzichten, sondern sicherzustellen, dass beide im Einklang sind.

Politik wird entweder von Ängsten oder von Werten getrieben. Wohin die Politik der Ängste führt, sehen wir jetzt. Sie hat viele Menschen auch deshalb angezogen, weil westliche Gesellschaften zunehmend unfähig sind, die eigenen Werte zu definieren und zu verteidigen. Eine Aufgabe, die heutzutage selbst von den Konservativen nur zögerlich übernommen wird. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass ihr Leben mehr Sinn hat als nur Konsumgüter anzuhäufen, wird scheitern. Es geht um Würde. Wer nicht selbst an den Wert der Werte glaubt, wer Apelle auf Werte – auch heimlich – als Sonntagsreden abtut, kann nicht glaubhaft über Würde sprechen.

Kant sagte dazu: Natürlich widerstreiten Vernunftideen den Behauptungen der Erfahrung, dazu sind Ideen da. Ideale sind nicht daran messbar, ob sie der Realität entsprechen, die Realität wird danach beurteilt, inwieweit sie den Idealen gerecht wird. Die Aufgabe der Vernunft ist sicherzustellen, dass die Erfahrung nicht das letzte Wort hat und die Vernunft soll uns dazu antreiben, den Horizont unserer Erfahrung zu erweitern, indem sie uns Ideen liefert, denen die Erfahrung gehorchen soll. Wenn das viele von uns tun, wird es auch so sein.

Die Welt wird verändert, wenn bestimmte Ideen als normal durchgesetzt werden. Ich möchte Ihnen ein vergessenes Beispiel geben. Ich streite mich oft mit einer meiner Töchter, die meint, dass der Feminismus irgendwie gescheitert sei, er habe uns nicht so viel gebracht, es gebe immer noch große Unterdrückung der Frauen. Ja, die gibt es noch, aber wir haben trotzdem Fortschritte gemacht.

Und selbst meine Tochter kann gegen folgendes Beispiel nicht ankommen: Während des Vietnam-Kriegs war der einfachste Weg, der Wehrpflicht zu entgehen, sich als Schwuler zu inszenieren. Denn erst seit Obama dürfen Schwule und Lesben dem Militär offiziell dienen. Nun kannte ich damals Männer, die nach Kanada flohen, Männer die in den Knast gingen, selbst Männer, die nach Vietnam fuhren. Unter diesen Männern, die sich allesamt als linke Kriegsgegner verstanden, gab es keinen, der bereit war, sich auch nur eine halbe Stunde lang als schwul auszugeben, obwohl in durchgerauchten Nächten oft Witze darüber gemacht wurden. Alle hatten Angst vor Gerüchten, die entstehen könnten: „Er hat´s nicht nur gespielt, er ist ja wirklich schwul.“

Nun, heute leben wir in einer Welt, in der gleichgeschlechtliche Ehen sogar in konservativen Ländern wie Spanien, Irland, den USA und endlich auch in Deutschland gefeiert werden können und eine CDU-Kanzlerin, Donald Trump wegen seiner Diskriminierung sexueller Orientierung ermahnt. Freilich hat die überraschend breite Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Liebe auch dunkle Seiten, die Neoliberalen können sich als liberal präsentieren, wenn sie nur niemand aufgrund bestimmter Zugehörigkeiten herabsetzen, grundsätzlich müssen sie nichts ändern. Dennoch ist die Gleichbehandlung von Lesben und Schwulen ein Fortschritt, der noch vor einer Generation unvorstellbar war.

Nun, glauben sie immer noch, dass Ideen wie Gerechtigkeit die Welt nicht ändern können?

Demokratie braucht Bürger, die in der Lage sind, ihre Worte zu reflektieren. Wir schlucken oft Phrasen, ohne uns über deren Bedeutung bewusst zu werden. Mit Phrasen wie „Verantwortung gegenüber unseren Aktionären“ verkleidet der Neoliberalismus seinen Grundsatz Gewinn über alles in schönen moralischen Tönen. Wer will schon gegen Verantwortung klagen? Eine wunderbare Phrase: Verantwortung gegenüber meinen Aktionären.

Und der wohlgemeinte Ruf nach Toleranz ignoriert die Tatsache, dass man im Alltag nicht das toleriert, was man nicht mag, sondern vielmehr das, wogegen man nichts tun kann: Ich toleriere den Lärm aus der Nachbarwohnung, den Gestank in der U-Bahn. Schon Goethe hat gesagt: „Toleranz ist eine Beleidigung.“ Ein Rechtsnationalist, der zu Toleranz ermahnt wird, wird nur an seine Machtlosigkeit erinnert.

Viel stärker wirkt ein Apell an die Solidarität, ein Hinweis auf die Bereicherung, die entsteht, wenn mehrere Kulturen zusammenkommen. Es ist bezeichnend, dass die Nationalisten in Städten, in denen täglich mehrere Kulturen miteinander leben, die Minderheit stellen. Selbst in Ländern, in denen die Anzahl der Rechtsnationalisten wächst, werden Großstädte wie London, Paris oder Rotterdam von Bürgermeistern ausländischer Herkunft regiert. Dies muss nicht zur Einheitskultur führen. Im Gegenteil: Wenn man andere Kulturen nicht bloß toleriert, sondern genießt, wird es leichter, auch die eigene Kultur zu schätzen. Solidarität mit anderen Kulturen darf aber nicht nur ein Appell bleiben, sondern muss auch feste Unterstützung miteinschließen, wie Angela Merkel jetzt entdeckt.

Europa kann ein Beispiel dafür geben, wie kulturelle Vielfalt mit politischer Einheit zusammenkommt. Nämlich dann, wenn Europa seine eigenen Ideale wieder entdeckt. Für viele Europäer ist Europa heute nur ein Binnenmarkt, betrieben von einer Bürokratie in Brüssel, die selbst wiederum von der neoliberalen Wirtschaft bestimmt wird. In einer Zeit, in der täglich über das Ende der EU spekuliert wird, kann es tollkühn erscheinen, Europa zu preisen. Doch Außenstehende – und ich bin noch irgendwie außenseits sozialisiert worden, obwohl ich hier seit 30 Jahren lebe – Außenstehende sehen manches deutlicher als die Europäer selbst. Für sie bleibt Europa – und für Tausende von Flüchtlingen ist das auch klar – trotz aller Schwierigkeiten auch ein Ort, wo hundertjährige Kriege durch friedliche Verhandlungen ersetzt wurden, ein Ort, wo die Ideale einer sozialen Solidarität lebendig praktiziert werden, wo medizinische Versorgung, Wohnung und Bildung nicht nur als Güter, sondern als Rechte verstanden werden. Für Menschen von Dakar bis Dallas ist Europa ein Ort, wo Rechtsstaatlichkeit in hohem Maß herrscht und Gleichheit vor dem Gesetz anerkannt wird.

Nun, jeder der Zeitung liest, weiß auch, wie oft Europa seine eigenen Ideale verletzt und nicht nur in den letzten paar Wochen. Es liegt an den Bürgern Europas selbst, darauf zu bestehen, dass Europa seinen besten Qualitäten treu bleibt. Zunächst müssen die Bürger erkennen, dass kein anderer Ort der Welt soviel für demokratische, ja sozial-demokratische Werte tut, wie dieses oft so beschimpfte Europa. Identitäten werden auf Traditionen aufgebaut, die von Musik über Feste bis hin zu Idealen reichen. Europa darf nicht mehr verstanden werden als etwas was wir nur ertragen, sondern als etwas, was wir aktiv anstreben.

Vor zwei Jahren kritisierte mich ein Politiker der Grünen, als ich behauptete, Europa sei ein Bollwerk der Demokratie gegen Russland auf der einen Seite und den USA auf der anderen Seite, da war Obama noch Präsident. Was ich damals gemeint und erklärt habe, dass der uneingeschränkte Einfluss des Geldes auf die amerikanische Politik dabei sei, die Demokratie zu unterhöhlen, das ist ja geschehen. Der Politiker ermahnte mich, ich sollte nicht die Verhältnisse in Russland mit denen in den USA vergleichen. Ermahnen ist nicht ganz richtig, er hat mich angeschrien auf einer Podiumsdiskussion. Heute würde er vermutlich anders reden.

Trump, Putin, Modi et.al., Orban… wir können die Liste leider beliebig ausführen – werden sie Europa dazu bringen, seine eigenen Tugenden neu schätzen zu lernen und viele Europäer dazu bewegen, sich zivilgesellschaftlich dafür zu engagieren? Dies bleibt nicht nur für Europa die beste Hoffnung, die wir haben. Es geht wirklich um die Welt.

Ideale werden durch Sprache ausgedrückt, wir haben kein anderes Mittel. Wer seine Sprache überprüft, wird auch lernen, die theoretischen Annahmen zu prüfen, die dahinterstehen. Der postmoderne Glauben, das Ansprüche auf Wahrheit und Gerechtigkeit reine Machtansprüche sind, durchseucht unseren Alltagsdiskurs. Überlegen Sie sich, wann sie die Meinung ausdrücken, dass Wahrheit und Gerechtigkeit nur Fragen der Perspektive sind. Ein Professor, der solche Meinungen seiner Studierenden nicht mehr hören konnte, begann ein Experiment. Er gab den besten Aufsätzen, die schlechtesten Noten und umgekehrt. Nachdem die Studierenden protestierten, dies sei ungerecht, erwiderte er, dass er nach deren eigenen Denkweisen gehandelt habe. Ich weiß nicht, ob die Studierenden nachhaltig überzeugt waren.

Mein Lieblingsbeispiel sind die Opferungen von Verehrern des Götzen Molloch. Um die Schreie der brennenden Kinder zu übertönen, haben die Priester laut getrommelt. Kann jemand, der sich solche Szenen vorstellt, behaupten, es sei nur eine Frage der Kulturperspektive? Konkrete Beispiele der Grausamkeit zeigen, dass wir tatsächlich an Wahrheit und Gerechtigkeit glauben. Was hindert Sie daran, ihre Theorien mit der Wirklichkeit zu konfrontieren? Ich rede in einer Zeit, in der nichts einfacher wäre, als mich dem Geschichtspessimismus anzuschließen. Ich kämpfe wirklich dagegen, ich schwöre! Sie können meine Familie fragen, die sind alle hier…[Lachen]. Dem widerstrebe ich nicht, weil ich Optimistin bin. Optimismus ist eine Verkennung der Tatsachen. Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern.

Hoffnung als Ideal zu verstehen, bedeutet, dass nichts einfach gegeben ist, sondern errungen werden muss. Wenn unsere Fähigkeit zum Guten so ausgeprägt ist, wie die Fähigkeit zum Bösen, warum zieht uns dann letztere an? Sie wissen es selbst, Pessimismus ist Mode. Früher waren es die Konservativen, die den fortschreitenden Untergang der Welt betonten und das war konsequent. Heute sind auch Menschen, die zum sogenannten fortschrittlichen politischen Lager gehören, nicht mehr bereit, das Wort Fortschritt in den Mund zu nehmen, jedenfalls nicht ohne Gänsefüßchen.

Denn der Begriff von Fortschritt, der in vielen Köpfen spukt, wurde von den Neoliberalen eingenommen, für die Fortschritt uneingeschränktes ökonomisches und technologisches Wachstum ist. Wenn das unter Fortschritt verstanden wird, wen wundert es dann, dass Fortschritt als etwas Schlechtes betrachtet wird? Doch Zynismus und Pessimismus wird von den Rechten benutzt, um Resignation zu befördern, damit wir uns nicht weiter bemühen, Fortschritte zu machen.

Der Aufklärung dagegen ging es um moralischen Fortschritt, wirtschaftliches und technisches Wachstum können als Mittel zur Bekämpfung von Armut und Krankheit dazu beitragen, galten aber nie als Ziele an sich. Der moralische Fortschritt, den die Aufklärung brachte, von der Abschaffung der Folter und der Sklaverei bis hin zur Einführung der Ideen von Bürger- und Menschenrechten sind offensichtlich. Und die Tatsache – hören Sie mir sehr gut zu – die Tatsache, dass es heute möglich ist, Menschenrechte zu verletzen und Folter wieder einzuführen, beweist nur eins: Fortschritt ist nicht unvermeidlich – wie die Marxisten oder die Hegelianer dachten, sondern liegt in Menschenhänden.

Wir müssen an den Zeichen des Fortschritts festhalten, denn sie sind nicht zum Ausruhen, sondern zum Anfeuern da. Ich vermute die Angst davor, uns an die guten Nachrichten zu erinnern und lauthals Ideale zu verkünden, entstammt etwas Primitiven, der Befürchtung als „Naivlinge“ ausgelacht zu werden. Diese Angst vor Peinlichkeit sollte uns eigentlich peinlich sein. Doch wir verhalten uns zu oft wie diejenigen, die sich nicht trauen, auf die Nacktheit des Kaisers hinzuweisen. Dazu hat Ingo Schulze ein sehr schönes kleines Buch vor ein paar Jahren geschrieben, „Unsere schönen neuen Kleider“, sehr zu empfehlen.

Wir haben in den USA einen Möchtegern-Weltkaiser und die Stimmen, die aus den USA hallen, tönen endlich unbefangen. Ich glaube, ich habe fünf Artikel aus der New York Times in den letzten paar Tagen gelesen, die das Wort Faschismus benutzen – und die New York Times ist ziemlich konservativ, das ist in etwa die FAZ der USA. Das Wort Faschismus, man spielt nicht damit. Aber es wird jetzt laut ausgesprochen.

Wir haben es geschafft, diese schreckliche Trennung von Kindern und Erwachsenen wirklich zu stoppen. [Applaus] Dort hat also der Widerstand gegen den Rechtsnationalismus begonnen und wird weiterentwickelt. Die Frage ist, wie sich die Europäer anschließen.

Dankeschön.

 

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