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Die alte und die neue Lust auf Fundamental-Opposition

Die alte und die neue Lust auf Fundamental-Opposition

Reflektionen anlässlich des Vortrags von Prof. Markus Linden im Rahmen der Veranstaltung „Putin-Propaganda in Deutschland – die Nachdenkseiten als Querfrontmedium?“ von Georg Habs

Prof. Markus Linden hält nichts von Fundamentalopposition. Er hat dafür gute Gründe. Ich unterscheide zwei Arten der Fundamentalopposition – die eine Variante ist mir in guter Erinnerung, die andere ein Graus.

In Fundamentalopposition aufzubrechen, wirkt meist befreiend. Aber ist das, was man da abwirft, stets Ballast oder sind es gewichtige ethische Handlungsgrundsätze? Meiner Erfahrung nach kann es beides sein. So gut sich die Dynamik der Enthemmung für ihre Pilotinnen und Piloten auch anfühlt, unter Umständen erweist sie sich als Brandbeschleuniger der Selbst- und Fremdgefährdung.

Wie komme ich zu dieser Einschätzung? Ich wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren. Als ich 14 Jahre alt war, lag meine Zukunft fertig ausgebreitet vor mir: Raus aus der Schule, rein ins Studium, einen Beruf ergreifen, gutes Geld verdienen, heiraten, Kinder zeugen, den angestammten sozialen Status wahren, besser noch: aufsteigen, aufsteigen, aufsteigen.

Diese familiäre Bestimmung versprach mir eine lebenslange, recht öde Zufriedenheit. Der Rest der Welt zählte wenig: Armut, Hunger, Krieg – das waren anderer Leute Probleme, die mich nichts anzugehen hatten.

1968/69 brach diese „feste Burg“ der Fremdbestimmung in sich zusammen. Mir wurde, wie vielen anderen jungen Menschen, damals schlagartig klar: Diese ungerechte Welt kann und muss man verändern – das eigene Leben und das Leben aller anderen sind nicht blindes Schicksal. Eigensinn und Gemeinsinn sind denkbar und damit auch machbar – „unter dem Pflaster liegt der Strand“.

Diese Zukunftsoffenheit entfachte in vielen von uns Antiautoritären einen starken Wissendurst und Bildungshunger. Wir wollten verstehen lernen – beispielsweise durch Tat- und Täterermittlung fassbar machen, was sich im „Muff von 1000 Jahren“ versteckt.

Bis Mitte der 1970er Jahre habe ich meine linke Fundamental-Opposition mit viel Spaß ausgelebt – ich kommentierte gesellschaftliche Entwicklungen von der hohen Warte der „kritischen Theorie“, erfreute mich meiner Einsichten, ergriff Partei, wurde Teil eines rebellischen „Wir“. Ein gutes Gefühl, ein starkes Gefühl. Aber: Wir alle spürten, dieses Gefühl kann verwehen. Wir alle wussten: Es reicht nicht aus, die „herrschenden Verhältnisse“ zu verstehen, um sie zu überwinden.

Die „neuen sozialen Bewegungen“ machten uns fortgesetzt klar, dass zum politischen Handeln nicht nur strategisches Denken, sondern auch handwerkliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gehören.

Wir übten uns die Praxis ein, lernten aus eigenen Fehlern, realisierten Projekte, die exemplarisch erlebbar machen, dass sich Leiden tatsächlich mindern, Unterdrückung tatsächlich durchbrechen, lustvoller Altruismus tatsächlich bewerkstelligen lässt. Die so erzielten, alltäglichen Erfolge konnten sich durchaus sehen lassen. Sie waren aber nie das, was man „eigentlich“ erstrebte. Der Abstand zwischen dem Sein der Veränderung und dem weit entferntem Soll der Veränderung war ein stetes Ärgernis.

Tröstlich war und blieb, dass konkret Betroffene die Vorher-/Nachher-Unterschiede durchaus zu schätzen wussten –-mehr Lebensqualität, mehr Selbstbestimmung sind keine Kleinigkeiten.

Seit Einbruch der jüngsten Vielfach-Krisen blähen sich Unsicherheit, Unzufriedenheit und Ungeduld immer weiter auf. Ob sich der Kampf um eine menschenwürdigere Zukunft überhaupt noch gewinnen lässt, erscheint ungewiss.

Nichts und niemand ist damit geholfen, wenn man sich in Resignation oder Schockstarre treiben lässt. Vordringliches gerät aus dem Blick, weil die Gesellschaft des Spektakels mit Ablenkungen lockt.

Ich versuche mich nicht entmutigen zu lassen. Ich versuche Kurs zu halten. Ich tanze nicht auf tausend Hochzeiten. Ich fokussiere mein Engagement dauerhaft auf zwei, drei konkrete Einsatzfelder. Daei tue ich, was ich besonders gut kann, nutze die Hebel und Angriffspunkte, die mir zur Verfügung stehen, stifte Demokraten aller Partei-Lager zu gemeinsamem, zukunftsträchtigem Handeln an. Absolut unverzichtbar ist für mich, die bröckelnden Brandmauern gegenüber allen Anti-Demokraten zu verteidigen und immer wieder auszubessern.

Andere sind anders. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich bei vielen einstigen linken Mitstreiterinnen und Mitstreitern in Zeiten der Konfliktzuspitzung eine Unlust am Klein-Klein praktischer Intervention breit macht.

Bei einem Teil von ihnen – beileibe nicht bei allen – unterspült die neue Lust auf Total-Opposition das Fundament sorgfältigen Denkens und Handelns.

Sie machen es sich oft schrecklich einfach mit ihrer Renaissance einer monopolaren Weltsicht: Der Feind meines Feindes ist mein Freund – dieser Freund kann nur Opfer, niemals Täter sein. Der Glaubenssatz „An allem ist nur der Westen schuld“ bedeutet im Umkehrschluss: Russischen Imperialismus gab es nicht und gibt es nicht.

Da mag Waldimir Putin Jahr für Jahr eine völkische Großraum-Ideologie des Russischen predigen, sich offen Interventionsbefugnisse gegenüber souveränen Nachbarstaaten anmaßen und seine völkischen Großmachtvorstellung in einen brutalen Angriffskrieg ummünzen – das alles zählt nicht. Was zählt, sind allein die Missetaten der NATO, EU und Ampel.

Die neuen Fundamental-Oppositionellen genießen den Kraftstoß des sich Bekennens. Sie wollen gedanklich mal wieder im Zentrum des Weltgeschehens stehen. Sie genießen die Chance, alte anti-imperialistische Schlachten mit neuem missionarischem Eifer nochmals zu schlagen. Sie gehen in ihrer Rolle als Verteidiger auf und merken nicht, dass der vorgebliche Angegriffene ein Aggressor der Sonderklasse ist.

Die neuen Fundamental-Oppositionellen wollen nichts mehr von der Vielschichtigkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeit politischer Zusammenhänge hören. Was sie suchen, ist ein sicherer Hort politischer Selbstverortung.

Die Erfüllung solcher Wünsche ist denen gewiss, die Umsicht und Faktentreue aufgeben, die ihre kritische Selbstreflexion abbrechen und sich einer bedenkenlosen Selbstradikalisierung hingeben. Ist eine Barriere ernsthafter Nachdenklichkeit erst einmal gefallen, dann gibt es oft kein Halten mehr. Das Realitätsprinzip hat ausgedient, am Ende herrscht allein das Lustprinzip völlig willkürlicher Schuldzuweisung.

Das Entstehen einer derart bedenkenlosen, ex-linken Fundamental-Opposition zerreißt die Gesellschaft als Ganzes nicht prompt von oben bis unten. Weitere Stabilitätsverluste bringt diese Entwicklung aber durchaus mit sich: Spekulatives Misstrauen und autoritäres Denken greifen weiter um sich. Selbstgerechtigkeit, Hass, Hetze finden noch mehr Nahrung.

Die Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Aufmerksamkeit driften in dunkle Randgefilde ab. Aus jeder lebenspraktischen Frage der Krisenbewältigung wird ein heilloser und lähmender Kulturkampf.

Die neue Fundamental-Opposition stärkt so mittelbar und unmittelbar die extreme Rechte.

Kräfte der Aufklärung und Emanzipation verlieren an Einfluss. Die Reste der Linken spalten sich kreuz und quer.

Deshalb sage ich: Keine Toleranz gegenüber Ignoranz und Intoleranz, keine Toleranz gegenüber der neuen, bedenkenlosen Fundamental-Opposition!

Diese apodiktische „Kampfansage“ schränke ich aber prompt wieder etwas ein: Langjährigen Freundinnen und Freunden bleibe ich treu und zugewandt, auch wenn sie der neuen, bedenkenlosen Fundamental-Opposition frönen.

Den „Wärmestrom“ persönlicher Loyalität lasse ich trotz schwerwiegender politischer Differenzen nicht abreißen – es gibt ein vor- und nachpolitisches Leben, es gibt ein „Chelat“ des Privaten, ein intim-soziales Miteinander.

Diese elementaren Verbindungen haben nicht nur ein sinnstiftendes Eigengewicht, sondern wirken ganz nebenbei als Dehnungsfugen unser Zivilgesellschaft.

Von der Person Wolf Biermann mag man halten, was man will, sein bereits 1968 verfasstes Gedicht „Ermutigung“ ist und bleibt für mich wegweisend:

„Du, lass dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich
Und brechen ab sogleich.“

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