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Es nervt. Ein Beitrag von Momentmal! Aus Gründen.

Es nervt. Ein Beitrag von Momentmal! Aus Gründen.

Wiesbaden, Dezember 2020.

Corona nervt – auch das Team von Momentmal! Leute, die sich nicht an Schutzregeln halten und damit andere gefährden, nerven. Leute, die sich allzu sklavisch an Regeln halten, nerven. Es nervt, dass alle so genervt sind – Du, ich und andere.

Immer mehr Menschen verfallen angesichts der zweiten Corona-Welle abwechselnd in Hohn und Spott über widersprüchliche „Wellenbrecher“-Verordnungen und lückenhafte Hilfsangebote.

Der Eifer, mit dem nach Haaren in der Suppe der Corona-Schutzmaßnahmen gesucht wird, speist sich aber nicht allein aus der aktuellen Ausnahmesituation, sondern scheint uns Ausdruck einer seit langem aufgestauten Politikverdrossenheit zu sein. Dabei erkennen wir verschiedene Muster wieder – bei anderen und auch bei uns selbst.



Stichwort Maskenpflicht: In Wiesbaden gilt für zwei Fußgängerzonen Masken-Pflicht, für eine dritte nicht. Die unterschiedliche Strenge des Eingriffs entspricht der unterschiedlichen Frequentierung der drei Fußgängerzonen. Diese nahe liegende Erklärung wird nicht wahrgenommen. Lieber ergeht man sich mit Genuss im Verdruss über die „da oben“,  die mal wieder nicht wissen, was sie tun.

Selbst wenn man das zweierlei Maß bei der Maskenpflicht weiterhin merkwürdig findet, ist die Aufregung, mit welcher die Kritik geäußert wird, maßlos. Man könnte die kleinen Unstimmigkeiten mit einem „Na und?“ quittieren, anderswo einkaufen gehen oder die geringfüge Masken-Belästigung in Kauf nehmen. Doch solche Gelassenheit ist selten, es überwiegt ein aufgeregtes „Aber Hallo!“.


Stichwort Beschulung: Maskenpflicht und andere häufig wechselnde Vorgaben lassen manche Pädagogen am Erziehungserfolg ihres Unterrichts zweifeln. Das führt sie zu der Mutmaßung,  das Offenhalten der Schulen diene nicht der Durchsetzung des „Rechts auf Bildung“, sondern ziele darauf ab, Eltern von Ganztags-Betreuungsnotwendigkeiten ihrer Kinder frei zu halten und ihnen damit die  Fortsetzung ihrer regulären Arbeitstätigkeit zu ermöglichen.

Die Bereitschaft, diesen Zielkonflikt zwischen Einlösung einer Erziehung nach allen Regeln pädagogischer Kunst und Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens auszuhalten und das Beste daraus zu machen, ist gering. Umso größer ist die Empörung über das „irrlichternden“ Tun der „Obrigkeit“. Was man von ihr erwartet, sind Entscheidungen, die es allen Recht machen und das auch noch auf Dauer und ohne Kurswechsel – mehr, als selbst die Klügsten der Klugen derzeit bewerkstelligen können.


Stichwort berufliche Existenz: Die Risiken der Corona-Pandemie sind abstrakt. Höchst konkret hingegen ist das Wissen darum, wie lange der eigene Betrieb oder das Unternehmen, für das man tätig ist, die Lockdown-Verfügungen überleben wird. Es werden rasche Lockerungen verlangt, obwohl man durchaus darum weiß, dass diese kaum mit einer Eindämmung des Infektionsgeschehens zu vereinbaren sind. Die Ungeduld, mit der unbürokratische Hilfen eingeklagt werden, ist durchaus verständlich und berechtigt. Doch fast jede der besonders betroffenen Berufsgruppen erhebt dabei nur Forderungen im nachvollziehbaren Eigeninteresse, fast keine bemüht sich um einen Schulterschluss mit anderen.

Ein Mehr an Solidarität mahnt deshalb eine Stellungnahme von „theaterperipherie“ und „Landungsbrücken Frankfurt“ zur Schließung der Theater an: „Dass es  sich einfach scheiße anfühlt, am Telefon vom Jobcenter gefragt zu werden, ob man denn wieder einen Job gefunden hat, und dass es sich auch scheiße anfühlt, vor Ort im Jobcenter von einem Security-Mitarbeiter aufgefordert zu werden, die Maske kurz abzulegen, um zu beweisen, dass man auch wirklich man selbst ist, der die Leistung bezieht. Das können wir in unserer Filterblase gerne besprechen und uns versuchen, gegenseitig Kraft zu geben. Aber sobald es um konkrete Forderungen geht, muss klar sein: Das geht uns gerade genauso wie allen anderen Menschen, die auf Leistungsbezug angewiesen sind. HARTZ IV ist scheiße und keine adäquate Grundsicherung! Und das erleben wir Künstler*Innen jetzt halt auch mal hautnah. Und wer das nicht wusste, der hat sich in den letzten 20 Jahren auch im Theater nicht wirklich für Gesellschaft interessiert.“


Stichwort Bürokratie: Sozialämter und Arbeitsagenturen dünnen zum Schutz ihrer Mitarbeiter parallel zum Anschwellen des Infektionsgeschehens ihre analogen Sprechzeiten aus. Wer dringend einen Behörden-Stempel braucht, um Ungemach von sich fern zu halten, hat da oft das Nachsehen. Doch nicht diese von praktischer Hilfe Abhängigen beschweren sich am laustärksten über die Selbstverbunkerung und Verweigerung notwendiger Leistungen von Verwaltungen, sondern wohlsituierte Menschen, die eine staatliche und kommunale Rundum-Versorgung ohne Abstriche auch in Krisen-Zeiten erwarten.

Ihnen geht es nur am Rande um für sie eigentlich verschmerzbare Leistungseinbußen. Sie nehmen diese vorrangig zum Anlass, um die altbekannte Klagen über die Tücken der Bürokratie anzustimmen. Man mokiert sich einmal mehr über vorgebliche Tendenz von Verwaltungen, ihre Arbeit in genau dem Maß auszuweiten, wie man ihnen Zeit und Personal für ihre Erledigung zur Verfügung stellt.


Der Sozialdarwinismus ging mit der Behauptung hausieren, nur der Stärkste habe eine Chance und ein Recht auf Überleben. Marktradikale Ideologen proklamieren nicht weniger apodiktisch „Konkurrenz belebt das Geschäft“ und „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Dies gipfelt in dem Anspruch, in der steten Auseinandersetzung mit Mitbewerbern könne sich nur bewähren und obsiegen, wer ohne Unterlass der Verpflichtung zur „Selbstoptimierung“ nachkommt.

Dass Menschen soziale Wesen sind, Kooperation und kluger Interessenausgleich Wege des erfolgreichen Miteinanders ebnen können, wird ebenso vorsätzlich ignoriert wie der Wert jeglicher Gemeinwesen-Orientierung des Einzelnen und der diversen Interessengruppen.


Was sich die Einzelnen, die sich der Selbstoptimierung unterwerfen, abverlangen, übertragen sie als Erwartung auf politische Institutionen. Sie sollen als perfekter Liefer-Service funktionieren, der den eigenen Erwartungen ständig vollauf zu genügen hat – was aus anderen wird, gilt als unmaßgeblich.

Da die Politik es nicht allen vollständig Recht machen kann, wird sie ständig als defizitär gebrandmarkt. Nicht nur die tatsächliche oder vermeintliche Bevorzugung anderer Interessengruppen wird dabei aufs Korn genommen, selbst Versuche von Ausgewogenheit gelten als höchst suspekt – gefährden sie doch potenziell den Erhalt des eigenen Wohlstands.


Auch im Diskurs über die Zumutungen der Corona-Pandemie bricht sich dieser entgrenzte Egoismus Bahn – Überempfindlichkeit paart sich mit hartem Austeilen: Jeder ist sich selbst der Nächste und Einzige.

Dass man bei allem, was man sagt, die Verhältnismäßigkeit seiner Mittel beachten sollte, wird als unzumutbarer Freiheitsentzug denunziert und nicht mehr als ein Akt der Mäßigung verstanden, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar ist. Zuspitzung der Kritik um der Zuspitzung willen, sich keine Deut um die Belegbarkeit kolportierter Vorwürfe zu kümmern, haben Konjunktur. Die Wahrung von Anstand und Wahrhaftigkeit gelten als vorsintflutliche Zumutungen, Verleumdung und üble Nachrede als zulässig – solange sie nur die „anderen“ treffen.


Das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, allein gelassen zu sein, mästet sich am Hohn und Spott über die vermeintlichen Übeltäter aus dem Reich der Politik. Die Lust, es denen mal richtig heimzuzahlen, wächst.


Wie befreiend wäre es doch, die Regeln der Vernunft zu brechen, sich nach Lust und Laune auszutoben, mit anderen den Tanz auf dem Vulkan zu wagen. Was davon abhält, seinen narzisstisch geprägten Unmut auf Straßen und Plätzen zu tragen, ist der Ekel vor denen, die sich da bereits tummeln.


Epidemiologen versichern glaubhaft: Leisten alle Menschen nur drei bis vier Wochen einen radikalen Verzicht auf Sozialkontakte, brechen die Infektionsketten in sich zusammen. Dann würden anschließend die meisten Freiheitsbeschränkungen wieder überflüssig – der Triebaufschub von heute stößt das Tor zum Hedonismus von morgen auf.

Das erinnert an den legendären amerikanischen Marshmallow-Test aus dem Jahre 1968: Vierjährigen Kindern schenkte man ein Marshmallow und stellte sie vor die Wahl, es entweder sofort zu essen oder noch ein zweites zu bekommen, wenn sie einige Minuten zuwarteten. Aug in Aug mit der süßen Versuchung verzichtete ein Teil der jungen Probanden auf die spätere Belohnung und biss einfach zu. Der Haken bei der heute angemahnten Impulskontrolle ist: Wenn viele ausscheren und tun, was sie nicht lassen mögen, dann haben alle den Schaden, dann entfällt die versprochene Belohnung. Ohne garantierten eigenen Vorteil sich für andere aufopfern – wozu?



Je mehr Menschen nur noch um das eigene Selbst kreisen, umso größer die Gefahr einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Umso dringlicher ist es, der bei vielen durchaus noch vorhandenen Alltagsvernunft kräftigende Nahrung zu geben.

Viele Experten überzeugt die Fortschreibung des „Lockdown Light“ nicht. Sie vermissen Maßnahmen mit rascher Tiefenwirkung und eine nachvollziehbare Langzeitstrategie. Irland arbeitet mit einem klar strukturierten Fahrplan, der von Level eins bis fünf aufzeigt, welche Maßnahmen je nach Entwicklung des Infektionsgeschehens ergriffen oder wieder aufgehoben werden. Die Menschen wissen dort, womit sie rechnen können und müssen, während sie sich bei uns stets aufs Neue mit ad hoc getroffenen Entscheidungen und Kompromissen der Politik konfrontiert sehen.


Mit allgemein gehaltenen Erklärungen an die Einsichtsfähigkeit der Menschen zu appellieren, reicht nicht. Die politisch Verantwortlichen müssen Sinn und Zweck der Vorgaben konkretisieren. Sie könnten beispielsweise anhand von Modellrechnungen verdeutlichen,  welch gewaltigen Unterschied es für die Eindämmung des Virus macht, ob private Treffen auf maximal fünf Personen begrenzt werden oder ob man nur noch eine Person empfängt, die nicht zum Haushalt gehört.

Wem der Blick in die Glaskugel solcher Computersimulationen nicht ausreicht, dem sollte man vor Augen führen, wie es in manch anderen europäischen Ländern gelungen ist, den Klammergriff der Pandemie innerhalb weniger Wochen zu lockern. Ein Teil der Wozu-Fragen von Skeptikern wäre damit beantwortet.


Sachliche Kritik an strittigen Eindämmungsversuchen des Infektionsgeschehens zu üben, ist wichtig, damit Spott, Zweifel und Misstrauen zurückgedrängt werden und nicht noch mehr Wasser auf die Mühlen des demokratiefeindlichen Querdenkens geleitet werden.


In den 70er und 80er Jahren haben viele von uns „Altlinken“ mit Begeisterung  die Kriminalromane  des schwedischen Autorenpaars Sjöwall-Wahlöö gelesen. Der Krimi „Der Polizistenmörder“ beispielsweise wartete mit einer gesellschaftlichen Lageeinschätzung auf, die von seiner Leserschaft allenfalls als etwas „vulgärmaterialistisch“ belächelt, aber als „gesellschaftskritische“ Unterhaltungsliteratur akzeptabel gefunden wurde.

Heute gehen Freundinnen und Freunden der offenen Gesellschaft die Augen über angesichts der in einzelnen Textpassagen verbreiteten Politik -Verdrossenheit und „Deep State“-Gedanken:

„[…] obwohl er einsah, daß das ganze System von einem Dutzend reicher Familien und ungefähr der gleichen Anzahl korrumpierter und untauglicher Politiker gesteuert wurde, die sich auch noch etwas darauf einbildeten, Mal für Mal die gleichen alten Lügen zu wiederholen […] “
Der Polizistenmörder, Maj Sjöwall  / Per Wahlöö, Rowohlt Taschenbuch Verlag

Wem in solch entlastenden Brachial-Phantasien die Rolle des allgewaltigen Übeltäters im Hintergrund zuzuweisen ist, ist austauschbar – Freimaurer, Illuminaten, russische Mafia, Putin, Xi Jinping, Bill Gates, BlackRock, das Kartell der Superreichen. Mit unschöner Regelmäßigkeit heißt die bösartige Antwort wie seit zwei Jahrtausenden: die Juden.


Dieses alte Querdenken wird hier und heute von Rechtsradikalen benutzt, um ihre Mär von kleinen Eliten, die für alle Übel dieser Welt verantwortlich sind, weiter zu verbreiten und für ihre brutal-autoritären Vorstellungen einer nationalen Erhebung zu werben.

Es gilt, solch grobe und brandgefährliche Vereinfachungen zu überwinden und sich von der Phantasie zu lösen, komplexe Probleme ließen sich im Handstreich erledigen. Die Konsequenzen solcher Selbst-Aufklärung müssen nicht langweilig sein. Fakten von Fake News zu unterscheiden, ist spannende Detektivarbeit. Um Formen der Ansprache zu entwickeln, die Grenzen des Lagerdenkens überwinden, muss man sein kreatives Potential voll ausreizen, immer wieder Neues wagen… Wer sich auf dieses Abenteuer unverdrossen einlässt, wird merken:  „Demokratie ist lustig“

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