Virus 2.0 – Neue Allianzen von Demokratiefeinden in der Corona-Krise

Virus 2.0 – Neue Allianzen von Demokratiefeinden in der Corona-Krise

Aktuell scheint es, als würden die Pandemieleugner durch die sinkenden Infektionszahlen und die Rücknahme der unpopulären Pandemiemaßnahmen erheblich an Mobilisierungskraft einbüßen. Ist der Spuk also bald vorbei?

Heike Kleffner, Journalistin und Buchautorin und Mitherausgeberin des im April 2021 erschienenen Sammelband „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“, geht davon aus, dass die in der Bewegung freigesetzten Ideologien und die dort aufgebauten Strukturen das Potenzial haben, die Demokratie auf nachhaltige Art zu schädigen, auch wenn die Bewegung zurzeit gerade aus dem öffentlichen Blick geraten ist.

Wer sind die Leute im Hintergrund der Bewegung und welche Netzwerke organisieren die Proteste und stellen die Reichweite her? Und warum hat es so lange gedauert, bis die offene Flanke nach rechts, die die Bewegung von Anfang an hatte, als solche benannt wurde?

Für dieses Video war Moment Mal! zu Gast in der Caligari FilmBühne Wiesbaden, wir danken dem Kulturamt Wiesbaden für die Unterstützung!

Eine sehr effektive Kampagne der extremen Rechten gegen den demokratischen Diskurs mit dem Feindbild Meinungsdiktatur habe man bereits 2015 beobachten können: Was als Flüchtlingskrise bezeichnet wurde, war im Grunde eine Krise der staatlichen Verwaltung und Institutionen, adäquat auf die Menschen zu reagieren, die aus den Bürgerkriegsländern hierher geflüchtet sind. Die extreme Rechte hat damals schon sehr organisiert reagiert: Das von ihr dabei konstruierte Feindbild der Meinungsdiktatur hat letztlich dazu geführt, dass die AfD und die extreme Rechte den Diskurs dominieren konnte. Auf diese diskursiven Erfolge sattelt jetzt die Bewegung der Coronaleugner, Pandemieverharmloser und Querdenker auf.

Dabei sind Verschwörungsnarrative und Antisemitismus die beiden zentralen ideologischen Elemente, die diese von den soziokulturellen Strukturen und Milieus her sehr heterogene Bewegung zusammenhält. Die Erzählung, dass eine geheime, mächtige Weltelite, wahlweise das vermeintlich jüdische Finanzkapital, die Pharmalobby die Pandemie steuern und von ihr profitiern würden, ist das alte antisemitische Narrativ, dass es eine geheime jüdische Weltelite gäbe, die – und damit schließt das Narrativ auch an den Antisemitismus des Nationalsozialismus an – die Welt und die sogenannten Völker kontrollieren würde.

Wir fragen Heike Kleffner:

> Welche Gefahren gehen von der Coronaleugner-Bewegung aus? Wie kommen Menschen dazu, zu glauben, es gäbe eine Meinungsdiktatur? Entwickelt sich hier eine Querfront der verschwörungsideologisch Denkenden unterschiedlicher Spektren, die eine populistische Staatskritik teilen – Stichwort: Die da oben – und die im Kern die Anerkennung der Komplexität von Wissenschaft und Prozessen in modernen Gesellschaften ablehnen?

> Welche Rolle spielen dabei die Krisen des Verwaltungshandelns, die angesichts größerer gesellschaftlicher Herausforderungen immer wieder aufbrechen? Welche Rolle spielt die AfD in den Verwaltungskrisen seit 2015?

> Auch in Wiesbaden haben wir wie in anderen Städten in den vergangenen Jahren ähnliche solcher rechtsradikal-offenen Mischszenen kennengelernt, in dem sich Verschwörungsideologen, rechte Esoteriker, alte und neue extreme Rechte und Reichsbürger zusammengefunden hatten. 2018 gab es Mobilisierungen von „Hand in Hand- gegen die Gewalt auf unseren Straßen“ – ein Versuch, das Muster der rassistischen Mobilisierungen aus dem rheinlandpfälzischen Kandel in Wiesbaden zu etablieren. Und aus dem gleichen Spektrum gab es 2019 Mobilisierungen in Wiesbaden, die versuchten eine Kopie der französischen „Gelbwestenbewegung“ auf die Straße zu bringen. „Warum hat Deutschland keinen Friedensvertrag“ wurde also bereits 2018 zwischen Wiesbadener Rathaus und hessischem Landtag gerappt. Was ist das Gemeinsame an diesen Mobilsierungen vermeintlich besorgter Bürger?

> Der Titel „Fehlender Mindestabstand“ verweist nicht nur auf die gesundheitsgefährdende Nichteinhaltung der AHA-Regeln bei Mobilisierungen von Querdenken und Co und die fehlende Abgrenzung der Protestbewegung zur verschwörungsideologischen Szene und der extremen Rechten, sondern auch auf den „Fehlenden Mindestabstand“ seitens der Sicherheits- und Ordnungsbehörden gegenüber der sich im Zeitraffertempo radikalisierenden Bewegung der Pandemieleugner. Wie sollen staatliche Akteure mit diesen neuen Allianzen von Demokratiefeinden umgehen, die sich im Kontext der Corona-Pandemie gebildet haben?


Zur Person: Heike Kleffner ist Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, in dem 14 unabhängige Beratungsstellen zusammengeschlossen.

Die Journalistin und Buchautorin schreibt seit den 1990er Jahren über rechte Gewalt, Neonazis und die Situation von Geflüchteten unter anderem für Zeit Online, die Frankfurter Rundschau, den Tagesspiegel, die taz, Jungle World und Jetzt.

Gemeinsam mit Matthias Meisner hat sie 2017 den Sammelband „Unter Sachsen – Zwischen Wut und Willkommen“ und 2019 den Sammelband „Extreme Sicherheit – Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“ herausgegeben. Im April 2021 ist euer neuester Sammelband erschienen mit dem Titel: „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“.


„Demokratie leben in Wiesbaden“ ist eine Strategie, die das zivilgesellschaftliche Engagement für Demokratie und gegen Extremismus fördert. Gefördert werden Projekte in Wiesbaden, die sich für ein vielfältiges, respektvolles und diskriminierungsfreies Miteinander einsetzen.

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.


Buchvorstellung des Verlages:
Wie Corona-Skeptiker unsere Demokratie und Freiheit bedrohen

In den Anti-Corona-Protesten wurde deutlich, wie tief inzwischen die Skepsis gegenüber parlamentarischer Demokratie und wissenschaftlichen Erkenntnissen in ganz unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung verankert ist: Impfgegner, Klimawandelleugner, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Neonazis marschieren nebeneinander – ohne Abstand. Dieses Buch analysiert das Phänomen einer erschreckend breiten Allianz: von neuen und alten Feinden einer aufgeklärten Gesellschaft und des demokratischen Rechtsstaats. Dabei werden auch Entwicklungen in Frankreich, den USA oder Österreich in den Blick genommen.

Matthias Meisner und Heike Kleffner haben zahlreiche Expertinnen und Experten versammelt, die sich fundiert den einzelnen Gruppierungen und Milieus widmen, deren Vernetzung aufzeigen und vor den Auswirkungen einer antidemokratischen Welle im Gefolge der Coronakrise warnen.

Interviews mit Dunja Hayali, Heiner Fangerau und Sven-Georg Adenauer.

Verlag Herder
Auflage 2021
352 Seiten
ISBN: 978-3-451-39037-1